Kapitel 7
Das Atom

Das Wort Atom kommt aus dem Griechischen und bedeutet unteilbar. Als Atom wird dementsprechend der kleinste unveränderliche Bestandteil eines chemischen Elements bezeichnet. In diesem Kapitel untersuchen wir charakteristische Eigenschaften, wie Masse und Grösse, von Atomen, betrachten die Kategorisierung der Atome im Rahmen des Periodensystems der Elemente, beleuchten die Untersuchungsmethode Massenspektroskopie und lernen das Rutherfordsche Atommodell kennen, welches Ernest Rutherford aufgrund seiner Streuversuche von α  -Teilchen an Atomen formulierte. Es dient insbesondere als Grundlage für das Bohrsche-Atommodell, das wir in Kapitel 8 besprechen werden.

7.1 Die Atommasse

Atommassen werden in sogenannten relativen Atommassen Arel   angegeben. Experimentell hat man festgestellt, dass alle Atome eine Masse haben, die ungefähr einem Vielfachen der Masse des Wasserstoffatoms entspricht. Deshalb wurde eine atomare Masseneinheit 1 u eingeführt, welche ungefähr der Masse eines Wasserstoffatoms entspricht. Dementsprechend wären zum Beispiel die relativen Atommassen Arel   für Stickstoff (N  ) und Sauerstoff (O  ) gegeben durch

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Ab 1961 verwendete man aus experimentellen Gründen (präzisere Messungen von Atommassen) eine neue Definition der atomaren Masseneinheit

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wobei 12 die Massenzahl A  und 6 die Kernladungszahl Z  bezeichnen. Auf die Bedeutung von Massenzahl A  und Kernladungszahl Z  wird in Abschnitt 7.3 näher eingegangen.

Den Zusammenhang zwischen den relativen und den absoluten Atommassen ergibt sich aus dem Begriff des Mols. 1 mol ist die Stoffmenge, welche so viel Gramm wiegt, wie das relative Atomgewicht Arel   angibt. Demzufolge ergibt sich zum Beispiel für die Masse von 1 mol Kohlenstoff 162   C 12 g. Nach Lorenzo Avogadro ist die Zahl der Atome oder Moleküle einer Substanz, welche in 1 mol enthalten sind immer gleich. Die Zahl wird mit N
  A   bezeichnet und heisst Avogadro-Konstante. Entsprechend der Definition für die atomare Masseneinheit 1 u, wird die Avogadro-Konstante NA   als die Anzahl Kohlenstoffatome in 12 g 12
6   C definiert. Sie ist gegeben durch

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Damit ergibt sich für die absolute Atommasse m  einer Substanz

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Wir gehen nun kurz auf einige experimentelle Methoden zur Bestimmung der Avogadro-Konstante ein:

7.2 Die Atomgrösse

Für die Bestimmung der Grösse von Atomen gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten. Weit verbreitet sind Streuexperimente, auf die wir als erstes näher eingehen werden.

7.2.1 Streuexperimente

Bei einem typischen Streuexperiment (siehe Abb. 7.1) trifft ein Teilchenstrahl (aus Atomen oder Molekülen) mit Dichte N0   , Strahlquerschnittsfläche A  und Teilchenradius r1   auf eine dünne Schicht der Dicke dx  von Atomen mit Radius r2   und Dichte n  . Die Frage die nun untersucht wird ist: Wie viele Teilchen aus dem Strahl stossen mit Atomen aus der dünnen Schicht zusammen? Oder in anderen Worten: Welcher Anteil der Teilchen aus dem einfallenden Strahl kann die Schicht nicht ungestört passieren?


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Abb. 7.1: Schematischer Aufbau eines typischen Streuexperiments: Ein Teilchenstrahl mit Dichte N0   , Strahlquerschnittsfläche A  und Teilchenradius r1   trifft auf eine dünne Schicht der Dicke dx  von Atomen mit Radius r2   und Dichte n  .


Um diese Frage zu beantworten, führen wir eine neue Grösse ein, den Wirkungsquerschnitt. Der Wirkungsquerschnitt σ  ist eine Fläche, welche folgendermassen definiert ist: Begegnen sich einfallendes und ruhendes Teilchen innerhalb der Fläche σ  , so kommt es zum Zusammenstoss (zu einer Wechselwirkung), ansonsten nicht. Daher ist in unserem Fall der Wirkungsquerschnitt σ  gegeben durch (siehe Abb. 7.2)

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Mit Hilfe des Wirkungsquerschnitts können wir nun die Wahrscheinlichkeit W  angeben, mit der ein einfallendes Teilchen innerhalb der Schicht einen Stoss erfährt. Sie ist gegeben durch die Anzahl der Fälle in denen ein Stoss auftritt geteilt durch die Gesamtzahl der Fälle

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Dabei nehmen wir an, dass die Querschnittsflächen der Teilchen im durchschossenen Volumen nicht überlappen. Dies ist erfüllt, wenn die Dichte im betrachteten Volumen ausreichend gering ist.


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Abb. 7.2: Illustration zur Berechnung des Wirkungsquerschnitts: Zusammenstoss zwischen einfallenden Teilchen mit Radius r1   und ruhendem Teilchen mit Radius r2   .


Wir gehen einen Schritt weiter indem wir eine Schicht der Länge L  (in Strahlrichtung) betrachten und die Anzahl der transmittierten Teilchen des einfallenden Teilchenstrahls bestimmen. Dabei gehen wir von der zuvor betrachteten Situation aus und zerlegen das Volumen in dünne Schichten der Dicke dx  . Treten in eine solche dünne Schicht N  Teilchen ein, so erleidet ein Bruchteil dN  = - W N  einen Stoss und wird abgelenkt. Somit erhalten wir mit (7.10) für den Anteil der in der Schicht dx  gestreuten Teilchen

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Den Anteil der transmittierten Atome auf der gesamten Länge L  erhalten wir durch Integration

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Für die Zahl N  der transmittierten Teilchen ergibt sich

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und für die Zahl der abgelenkten Teilchen erhalten wir

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Das Produkt nσ = α  wird dabei als makroskopischer Streukoeffizient bezeichnet.

Um nun die Grösse eines Atoms zu bestimmen, geht man folgendermassen vor:

  1. Man führt ein Streuexperiment durch und bestimmt die Anzahl der einfallenden Teilchen N
  0   und der austretenden Teilchen N  , sowie die Teilchendichte n  und die Länge L  des Streukörpers.
  2. Mit Hilfe von (7.13) bestimmt man aus den experimentell bestimmten Grössen N0   , N  , n  und L  den Wirkungsquerschnitt σ  .
  3. Mit (7.9) erhält man die Summe der Radien der einfallenden Teilchen (Atome) und den Atomen des Streukörpers. Sind diese Atome identisch (r1 = r2 ≡ r  ), so ergibt sich der Atomradius r  und somit die Grösse eines Atoms.

Atomgrössen werden experimentell oft nicht mittels dem Wirkungsquerschnitt σ  sondern mittels der mittleren freien Weglänge ℓ  bestimmt. Diese ist folgendermassen definiert: ℓ  ist die Strecke, nach der nur noch ein Anteil von 1∕e  (~ 37%  ) der eintreffenden Teilchen N0   nicht gestreut worden sind, d.h. es gilt

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Daraus ergibt sich für die mittlere freie Weglänge ℓ  der folgende Ausdruck

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Unter der Annahme von r1 = r2 ≡ r  erhalten wir

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Würde man auch die Bewegung der gestossenen Teilchen, die wir bis jetzt vernachlässigt haben, berücksichtigen, so ändert sich die Form dieses Ausdrucks folgendermassen

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Betrachtet man anstelle von Teilchen Licht, so gilt für dessen Intensität I  nach dem Durchgang durch eine absorbierende Schicht der Dicke x

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Dieses Gesetz wird Beersches Gesetz genannt. Dabei entspricht I  der durchgehenden Lichtintensität, I0   der einfallenden Lichtintensität und α  der Absorptionskonstante der absorbierenden Schicht.

7.2.2 Weitere Methoden zur Bestimmung der Atomgrösse

7.2.3 Abbildungstechniken

Bei der Besprechung einiger Abbildungstechniken soll die Frage im Zentrum stehen, ob es möglich ist atomare Abmessungen aufzulösen, d.h. einzelne Atome „zu sehen“. Der zentrale Begriff dabei ist das Auflösungsvermögen. Darunter versteht man den kleinsten Abstand d  zwischen Strukturen, die noch als getrennt abgebildet werden können. Bekannte Abbildungstechniken sind:

In Tab. 7.1 sind die Auflösungsvermögen d  für die verschiedenen Abbildungstechniken zusammengefasst.




Abbildungstechnik Auflösungsvermögen d  [nm]


  
Lichtmikroskop (sichtbares Licht) ~ 500
Lichtmikroskop (Röntgen-Licht) einige 10
Elektronenmikroskop ~  0.1
Rastertunnelmikroskop (STM) ~ 0.1
Ionenfalle ~ 500


  

Tab. 7.1: Auflösungsvermögen verschiedener Abbildungstechniken.

7.3 Das Periodensystem der Elemente

Das Periodensystem der Elemente (siehe Abb. 7.3) wurde von den beiden Chemikern Dmitri Iwanowitsch Mendelejew und Lothar Meyer im Jahr 1869 unabhängig voneinander aufgestellt und ist eine Anordnung der Atome nach ihren chemischen und physikalischen Eigenschaften.

Das Periodensystem besteht aus acht vertikalen Gruppen mit Nebengruppen und sieben horizontalen Perioden. Diese Einteilung kommt aufgrund der chemischen und physikalischen Eigenschaften der Atome zustande. Sie spiegelt insbesondere den Aufbau der Atome und die dabei geltenden Gesetzmässigkeiten wider.


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Abb. 7.3: Das Periodensystem der Elemente. [8]


Die Atome werden mit einem Symbol abgekürzt, z.B. steht H für Wasserstoff, He für Helium, ... . Die Reihenfolge und Nummerierung der Atome kommt folgendermassen zustande: Wie wir in späteren Abschnitten sehen werden, sind Atome aus Elektronen, Protonen und Neutronen aufgebaut. Die Protonen und Neutronen bilden den Atomkern, der im Zentrum einer Elektronenwolke sitzt, die die Kernladung kompensiert. Ein Atom besteht aus gleich vielen Protonen und Elektronen. Im Periodensystem werden die Atome nun nach steigender Kernladungszahl Z  (auch Ordnungszahl genannt) aufgeführt. Sie ist oberhalb jedes Atoms aufgeführt und entspricht der Anzahl der Protonen und somit auch der Anzahl der Elektronen im Atom. Unterhalb jedes Atoms ist die relative Atommasse Arel   angegeben. In diesem Zusammenhang führen wir noch den Begriff der Massenzahl A  ein. Sie ist die der relativen Atommasse Arel   nächstgelegene ganze Zahl und entspricht der Summe der Anzahl Protonen und Neutronen, d.h. es gilt

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wobei N  für die Anzahl der Neutronen steht.

Zum Abschluss dieses kurzen Überblicks ein paar Bemerkungen zum Begriff der Isotopie: Zwei Atome, welche gleiche Kernladungszahl Z  , aber unterschiedliche Massenzahl A  haben werden als Isotope bezeichnet. Der Unterschied in der Massenzahl A  kommt durch die unterschiedliche Anzahl Neutronen N  im Kern der Atome zustande. Dieses Phänomen wurde mittels der Massenspektroskopie entdeckt, die wir im nächsten Abschnitt besprechen werden.

7.4 Massenspektroskopie

Die Massenspektroskopie dient zur Trennung von Atomsorten, welche unterschiedliche Ladungs-Massenverhältnisse q∕m  aufweisen und wie im vorangehenden Abschnitt erwähnt, stand sie damit auch am Ursprung der Entdeckung der Isotopie.

7.4.1 Parabelmethode nach Joseph John Thomson

Die Parabelmethode ist eine der ersten Methoden der Massenspektroskopie. Sie wurde 1913 von Joseph John Thomson entwickelt. Bei der verwendeten Versuchsanordnung (siehe Abb. 7.4) wird ein Ionenstrahl bzw. ein Strahl geladener Teilchen mit unterschiedlichen Ladungs-Massenverhältnissen q∕m  durch ein elektrisches Feld vecE  eines Kondensators und einem dazu parallelen Magnetfeld  ⃗
B räumlich getrennt. Auf dem Beobachtungsschirm ordnen sich die Teilchen mit gleichem Ladungs-Massenverhältnis q∕m  , aber unterschiedlicher Geschwindigkeit v  entlang einer Parabel an, daher auch der Name Parabelmethode. So entsteht schlussendlich auf dem Beobachtungsschirm eine Schar unterschiedlicher Parabeln, die jeweils einem bestimmten Ladungs-Massenverhältnis q∕m  zuzuordnen sind.


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Abb. 7.4: Versuchsanordnung für die Massenspektroskopie nach der Parabelmethode von Joseph John Thomson. Auf die einzelnen Bestandteile des Experiments wird im Text eingegangen.


Wir geben nun eine kurze Herleitung dieses Sachverhalts, wobei wir in einem ersten Schritt den Einfluss von elektrischem Feld E  und Magnetfeld B  getrennt betrachten:

Auflösen von (7.28) nach v  und einsetzen in (7.24) ergibt

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Diese Gleichung ist die Gleichung einer Parabel. Die Form hängt dabei von den bekannten Grössen E  , B  und L  , sowie dem Ladungs-Massenverhältnis q∕m  ab. Somit ist die zu Beginn getätigte Aussage bestätigt: Auf dem Beobachtungsschirm entsteht eine Schar unterschiedlicher Parabeln, die jeweils einem bestimmten Ladungs-Massenverhältnis q∕m  zuzuordnen sind. Damit ist wie bereits erwähnt eine räumliche Trennung von Isotopen - oder ganz allgemein die Trennung von geladenen Teilchen mit unterschiedlichen Ladungs-Massenverhältnissen q∕m  - möglich. Zusätzlich kann bei bekannter Ladung q  aus der Form einer Parabel die Teilchenmasse m  bestimmt werden.

7.4.2 Verbesserungen der Parabelmethode

In den Jahren nach der Erfindung der Parabelmethode durch Joseph John Thomson wurden diverse Verbesserungen angebracht, die zu hochauflösenden Massenspektrometern führten:

7.4.3 Anwendungen der Massenspektroskopie

Neben der bereits erwähnten Verwendung in der Atomphysik zur Analyse und Trennung von Zusammensetzungen verschiedener Isotope findet die Massenspektroskopie in diversen Gebieten der Chemie und Physik ihre Anwendung:

Es sei hier noch die Bemerkung angefügt, dass zur Trennung von Zusammensetzungen verschiedener Isotope neben der Massenspektroskopie diverse andere Methoden zur Verfügung stehen und eingesetzt werden. Eine Übersicht gibt zum Beispiel das Buch Atom- und Quantenphysik von Hermann Haken und Hans Wolf [9].

7.5 Die Kernstruktur des Atoms

Ein erster Schritt in Richtung dem Atommodell, das wir heute kennen, lieferten Erkenntnisse aus Streuexperimenten mit Elektronen an Materie (Atomen) sowie die durch Rutherford durchgeführten Streuexperimenten mit α  -Teilchen an Goldfolien.

7.5.1 Elektronen-Streuung

Erste Untersuchungen von Atomen durch Elektronen-Streuung gehen etwa auf das Jahr 1890 zurück. Sie wurden vom deutschen Physiker Philipp Lenard durchgeführt (siehe Abb. 7.5): (1) Mittels Thermoemission werden Elektronen erzeugt, die dann (2) beschleunigt werden und (3) mit Atomen wechselwirken. Die Elektronen, die durchgehen, werden (4) in einem Elektronen-Detektor aufgefangen und gezählt.


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Abb. 7.5: Schematischer Aufbau zur Untersuchung der Atomstruktur durch Elektronen-Streuung. Auf die einzelnen Teile der Versuchsanordnung wird im Text eingegangen.


Bei der Wechselwirkung der Elektronen mit den Atomen können verschiedene Streuprozesse auftreten:

Führt man das beschriebene Experiment durch, so beobachtet man, dass bei ausreichend hohen Beschleunigungsspannungen U  Elektronen einige cm Gas (bei Normaldruck 1 bar) bzw. einige μ  m dicke Metallplatten (~ 104   Atomlagen) durchdringen können. Die Wechselwirkung zwischen Elektronen und Atomen ist folglich viel kleiner als die Wechselwirkung zwischen Atomen. Insbesondere zeigt dieses Resultat, dass Atome für Elektronen durchdringbar sind. Wäre dem nicht so, so würde eine Streuung der Elektronen innerhalb der mittleren gaskinetischen freien Weglänge (   -7
10   m) stattfinden.

Wir kommen nun zur quantitativen Messung des Wirkungsquerschnitts σ  . Der Aufbau eines möglichen Experiments entspricht im Wesentlichen dem in Abb. 7.5. Dabei wird die einfallende und die durchgelassene Elektronen-Intensi-tät I0   bzw. I  , sowie die Dichte n  der Streuatome bestimmt. Diese Messungen erfolgen für verschiedene Beschleunigungsspannungen U  . Der Wirkungsquerschnitt σ  ergibt sich aus der Formel (7.19)

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wobei x  der Länge der Wechselwirkungszone zwischen Elektronen und Atomen und α  dem makroskopischer Streukoeffizient entsprechen. Unter der Annahme von gleichen Streuatomen gilt

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Die Summe r1 + r2   bezeichnen wir mit R  . R  entspricht dem sogenannten Stossradius. Das Resultat einer Messung des Stossradius R  in Abhängigkeit der Elektronengeschwindigkeit v  (siehe Abb. 7.6) zeigt, dass nur ein kleiner Bruchteil eines Atoms für Elektronen (insbesondere schnelle Elektronen) undurchlässig ist. Nach Lenard ist das Innere eines Atoms so leer wie das Weltall. Daraus wurde geschlossen, dass Masse und Ladung ungleichmässig (körnig) im Atom verteilt sind.


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Abb. 7.6: Stossradius R  in Abhängigkeit der Elektronengeschwindigkeit v  (ausgedrückt in Einheiten der Lichtgeschwindigkeit c  ).


Die Vorstellung eines Atomkerns, der die gesamte positive Ladung und beinahe die gesamte Masse des Atoms enthält, entstand durch die Versuche von Rutherford mit denen wir uns im nächsten Abschnitt beschäftigen.

7.5.2 Rutherford-Streuung und das Rutherfordsche Atommodell

Rutherford untersuchte in seinen Versuchen nicht die Streuung von Elektronen, sondern die Streuung von α  -Teilchen an einer Folie. α  -Teilchen sind doppelt ionisierte Helium-Kerne 42He++   mit einer hohen kinetischen Energie Ekin ~ 5   MeV. Sie entstehen bei einem radioaktiven Zerfall. Für α  -Teilchen ist es möglich viele Atomschichten zu passieren bis sie alle ihre kinetische Energie an die Atome abgegeben haben. Z.B. kommen α  -Teilchen in Luft unter Normalbedingungen erst nach einer Strecke von 3.5 cm zum Stillstand.

Beim Rutherford-Streuexperiment (siehe Abb. 7.7) werden α  -Teilchen durch den Zerfall eines radioaktiven Materials erzeugt. Der Strahl wird durch einen Kollimator gebündelt und trifft auf eine Metallfolie. Als Detektor dient ein Szintillationsschirm, welcher durch die α  -Teilchen angeregt wird und Licht ausstrahlt, welches beobachtet werden kann.


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Abb. 7.7: Versuchsaufbau des Rutherford-Streuexperiments: Mittels radioaktiver Quelle erzeugter α  -Teilchen werden an einer Folie gestreut und anschliessend auf einem Szintillationsschirm registriert.


In diesem Experiment interessiert uns nicht wie bisher die ungestört durchgelassen Intensität der α  -Teilchen, sondern die Intensität der gestreuten α  -Teilchen in Abhängigkeit des Streuwinkels ϑ  . Die Messung liefert folgendes Ergebnis:

Rutherford deutete diese Resultate wie folgt (siehe Abb. 7.8): Rutherfordsches Atommodell (1911)


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Abb. 7.8: Rutherfordsches Atommodell: Ein Atomkern der Ladung Ze  ist von negativen Elektronen umgeben.


7.5.3 Rutherfordsche Streuformel

Wir kommen nun zurück zum ursprünglichen Streuexperiment und leiten eine Formel für die Streuintensität in Abhängigkeit des Streuwinkels ϑ  her. Wir betrachten die Streuung von α  -Teilchen an einem Atomkern der Ladung Ze  (siehe Abb. 7.9).


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Abb. 7.9: Skizze der Rutherford-Streuung zur Herleitung der Rutherfordschen Streuformel.


Es gelten die folgenden Annahmen:

Die Vorgehensweise ist nun die folgende:

  1. In einem ersten Schritt betrachten wir die Streuung eines einzelnen α  -Teilchens an einem einzelnen Atomkern und berechnen den Zusammenhang zwischen Stossparameter b  und Streuwinkel ϑ  .
  2. In der Realität ist es nicht möglich die Streuung eines einzelnes α  -Teilchens an einem einzelnen Atomkern zu betrachten. Wir erweitern daher in einem zweiten Schritt das Modell auf N  α  -Teilchen, welche an einer Folie (Dicke D  , Fläche A  und Dichte n  ) streuen und bestimmen die Zahl dN  der Teilchen welche vom Detektor bei einem bestimmten Streuwinkel ϑ  registriert werden.

Wir kommen zur Herleitung nach der oben aufgeführten Vorgehensweise:

  1. Die Anfangsgeschwindigkeit des α  -Teilchens im Punkt A sei v0   . Wie bereits erwähnt bewegt sich das α  -Teilchen entlang einer Hyperbel. Wir betrachten nun das α  -Teilchen in einem beliebiger Punkt B mit den Polarkoordinaten (r  , φ  ) auf dieser Hyperbel und zerlegen die dort wirkende Kraft F  in eine senkrechte und eine horizontale Komponente F
 ⊥ bzw. F
 ∥ , d.h. es gilt

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    Entlang der Hyperbel sind Kraft ⃗
F  und Abstandsvektor ⃗r  immer parallel zueinander. Demzufolge verschwindet das Drehmoment M⃗ = ⃗r × ⃗F  und der Bahndrehimpuls ⃗L = ⃗r × ⃗p  ist entlang der Hyperbel erhalten. Insbesondere können wir den Bahndrehimpuls in Punkt A mit demjenigen in Punkt B gleichsetzen

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    Wir stellen nun die Bewegungsgleichung für die Bewegung senkrecht zur ursprünglichen Flugrichtung auf

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    Integration über die Zeit von Punkt A nach C und ersetzen von 1∕r2   mit Hilfe von (7.38) liefert

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    Wir substituieren auf der linken Seite t → v⊥ und auf der rechten Seite t → φ  und erhalten

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    Zur Auswertung des Integrals betrachten wir die Grenzen etwas genauer. Wir nehmen an, dass der Punkt A soweit vom Kern entfernt ist (im Unendlichen), dass keine Coulomb-Kraft wirkt und daher v⊥,A = 0  ist. Ausserdem gilt: φA  = 0  . Auch den Punkt C schieben wir ins Unendliche, sodass gilt φ   = π - ϑ
  C  . Die Geschwindigkeit entspricht aufgrund der Energieerhaltung derjenigen Geschwindigkeit im Punkt A. Folglich gilt v⊥,C = v0sinϑ  . Einsetzen der Grenzen in (7.41) liefert

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    Somit erhalten wir

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    Mit (1 + cosϑ)∕sinϑ = cot ϑ∕2  erhalten wir schlussendlich für den Stossparameter b  in Abhängigkeit des Streuwinkels ϑ  den folgenden Ausdruck

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  2. In der Realität ist es für einen Detektor nicht möglich die Anzahl einfallender α  -Teilchen bei einem festen Winkel ϑ  zu messen, sondern nur in einem Winkelintervall [ϑ  , ϑ+ dϑ  ] (siehe Abb. 7.10). Die entsprechenden Stossparameter liegen im Intervall [b  , b+ db  ].
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    Abb. 7.10: Skizze der Rutherford-Streuung zur Herleitung der Rutherfordschen Streuformel.


    Aus (7.44) folgt folgender Zusammenhang

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    Wir sehen, dass mit wachsendem Stossparameter b  der Streuwinkel ϑ  kleiner wird. D.h. α  -Teilchen mit einem Stossparameter b  im Intervall [b  , b + db  ] werden in das Winkelintervall [ϑ - |dϑ | , ϑ  ] gestreut. Dabei gilt

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    Da unser Problem rotationssymmetrisch ist, entspricht einem Streuwinkelintervall [ϑ - |dϑ | , ϑ  ] ein ganzer Kreisring. Entsprechend stammen die zugehörigen Stossparameter auch aus einem Kreisring der Radien r1 = b  und r2 = b + db  , siehe Abb. 7.10. Diese Stossparameter stammen aus einer Fläche df  , der sogenannten aktiven Fläche für dieses Streuwinkelintervall [ϑ - |dϑ| , ϑ  ]. Es gilt

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    Bisher haben wir nur ein Streuatom der Folie betrachtet. Wir erweitern nun das Modell indem wir uns die gesamte Folie (Dicke D  , Fläche A  und Dichte n  ) anschauen. Für die aktive Fläche dF  aller Atome gilt

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    Dabei haben wir angenommen, dass sich die aktiven Flächen der einzelnen Streuatome nicht überlappen. Diese Annahme ist bei dünnen Folien (bis 10000 Atomlagen) gerechtfertigt.

    Die Wahrscheinlichkeit W  , dass ein α  -Teilchen die aktiven Flächen dF  der Folienatome trifft, beträgt

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    Mit anderen Worten: W  ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein einfallendes α  -Teilchen ins Winkelintervall [ϑ - |dϑ| , ϑ  ] gestreut wird. Nun erweitern wir das Modell von einem auf N  einfallende α  -Teilchen. Dann ist die Anzahl α  -Teilchen dN ′ , welche in das Winkelintervall [ϑ - |dϑ | , ϑ  ] gestreut werden, gegeben durch

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    Ein Detektor misst schlussendlich nicht die Anzahl einfallender α  -Teilchen dN ′ auf einem ganzen Kreisring, sondern die Anzahl einfallender α  -Teil-chen dN  innerhalb eines kleinen Segments. Wir betrachten das Ganze auf der Einheitskugel: Sei dS  die Fläche des Kreisrings und dΩ  die Fläche des Segments (auch Raumwinkel genannt), dann gilt

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    Die Fläche dS  des Kreisrings beträgt

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    Einsetzen von (7.50) und (7.52) in (7.51) ergibt

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    Mit (7.44), (7.45) und (7.46) erhalten wir für das Verhältnis dN∕N  , d.h. für die Anzahl in ein Raumwinkelelement dΩ  um den Streuwinkel ϑ  gestreuter α  -Teilchen dN  durch die Anzahl der einfallenden α  -Teilchen N  , das folgende Schlussresultat:

Rutherfordsche Streuformel

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Bemerkungen zur Rutherfordschen Streuformel

7.6 Zusammenfassung