Wie in Abschnitt 12.4 angedeutet, ist in der Realität die Aufspaltung der Spektrallinien im homogenen externen Magnetfeld nicht alleine durch den normalen Zeeman-Effekt erklärbar. Es sind Aufspaltungen in vier, sechs oder mehr Linien beobachtbar, deren Abstand nicht durch den normalen Zeeman-Effekt erklärt werden können. Im Weiteren kann bereits ohne Anlegen eines externen Magnetfelds eine Aufspaltung diverser Spektrallinien in Doppellinien beobachtet werden. Auf diese sogenannte Feinstruktur und dessen Erklärung gehen wir in diesem und in den folgenden Kapiteln näher ein.
Wir befassen uns als erstes mit ein paar Experimenten, die auf das Auftreten einer Feinstruktur in atomaren Spektren hinweisen und die zur Hypothese des Elektronspins geführt haben. Anschliessend betrachten wir die Einbindung dieser neuen Grösse in den bisher kennengelernten Formalismus der Quantenmechanik und einer möglichen mathematischen Formulierung für den Elektronspin mittels den sogenannten Pauli-Matrizen.
In Kapitel 14 widmen wir uns dann der Wechselwirkung zwischen dem Elektronspin und dem Bahndrehimpuls des Elektrons, d.h. der sogenannten Spin-Bahn-Kopplung und damit der Erklärung der im Experiment beobachteten Feinstruktur. Im Weiteren befassen wir uns mit dem Einfluss eines externen Magnetfelds auf das Spektrum eines Atoms unter Einbezug des Elektronspins, d.h. dem sogenannten anomalen Zeeman-Effekt.
Eine experimentelle Beobachtung, die auf das Auftreten einer Feinstruktur in atomaren Spektren hinweist, ist zum Beispiel die ohne externen Felder beobachtete Aufspaltung der ersten Linie der Balmer-Serie () des Wasserstoffatoms bei der Wellenlänge nm in eine Doppellinie mit Wellenlängenabstand nm.
Diese Aufspaltung wird auch bei der gelben Linie der Natrium-Dampflampe beobachtet. Diese Linie entspricht dem Übergang und ist in der Spektroskopie unter dem Namen Natrium--Linie bekannt. Das Experiment zeigt, dass sie aus zwei Linien besteht, mit nm und mit nm. Die Untersuchung der weiteren Übergänge zeigt auch lauter Doppellinien, deren Abstand mit steigender Hauptquantenzahl systematisch abnimmt. Aus dieser Systematik kann man schliessen, dass es die -Niveaus sind, die aufgespalten sind und nicht das -Niveau. Ganz allgemein findet man bei wasserstoffähnlichen Atomen, dass alle Niveaus, die Zuständen mit entsprechen in zwei Niveaus aufgespalten sind.
Die beim Wasserstoffatom und der Natrium-Dampflampe beobachtete Aufspaltung einzelner Spektrallinien in Doppellinien ist ein Anzeichen dafür, dass die drei Quantenzahlen , und , die den drei Freiheitsgraden eines Massepunkts entsprechen, nicht zur Beschreibung des Zustands eines Elektrons genügen. Es muss eine vierte Quantenzahl, die wir nennen, eingeführt werden. Die Doppellinien deuten an, dass diese neue Quantenzahl zwei Werte annehmen kann.
An dieser Stelle gerät man in Versuchung zu vermuten, dass die neue Quantenzahl damit zusammenhängen könnte, dass man das Elektron bisher als Massepunkt und nicht als einen Körper endlicher Ausdehnung aufgefasst hat. Jedoch würde dies zu drei weiteren Freiheitsgraden und damit drei zusätzlichen Quantenzahlen führen. Die Begründung der neuen Quantenzahl lieferten Samuel Abraham Goudsmit und George Eugene Uhlenbeck in einer von ihnen 1925 formulierten Hypothese:
Hypothese des Elektronspins
Das Elektron verhält sich als ob es einen Eigendrehimpuls hätte, dessen z-Komponente zwei diskrete Werte (charakterisiert durch die Quantenzahl ) annehmen kann. Dieser Eigendrehimpuls wird Spin genannt und mit bezeichnet.
Bevor wir uns der Einbindung dieser neuen Grössen in den Formalismus der Quantenmechanik zuwenden, befassen wir uns mit einem Experiment, das einen weiteren Hinweis auf die Existenz des Elektronspins liefert.
Otto Stern und Walther Gerlach führten im Jahr 1922 Experimente mit Atomstrahlen durch. Bei ihrem Experiment (siehe Abb. 13.1) erzeugten sie in einer hochevakuierten Apparatur einen Silber-Atomstrahl, indem sie aus einem kleinen Ofen durch ein Blendensystem hindurch Silber-Dampf austreten liessen.
Dieser Atomstrahl wurde durch ein stark inhomogenes Magnetfeld (mit , ) hindurchgeschickt und dann auf einer Glasplatte aufgefangen. Dabei wirkt auf ein Atom die folgende Kraft
Bei ausgeschaltetem Magnetfeld läuft der Strahl, wie zu erwarten ist, geradeaus und es entsteht ein Silberfleck auf der Glasplatte, welcher der Blendengeometrie entspricht. Bei eingeschaltetem Magnetfeld würde man nach den bisherigen Erläuterungen zum Zeeman-Effekt (siehe Kapitel 12) eine Aufspaltung in eine ungerade Anzahl (genauer ) von Strahlen und damit Flecken auf der Glasplatte erwarten. Die von Stern und Gerlach in ihrem Experiment verwendeten Silberatome bestehen aus mehreren gefüllten Elektronenschalen und einem Elektron, welches sich im -Zustand () befindet. Der Gesamtdrehimpuls der Elektronen, der „gefüllten“ Schalen, verschwindet. Demzufolge können diese in unseren Betrachtungen vernachlässigt werden und wir können uns alleine auf das äusserste Elektron konzentrieren. Für dieses gilt (-Zustand) und demzufolge würde man keine Aufspaltung erwarten. Wäre das äusserste Elektron angeregt und befindet sich in einem -Zustand (), dann würde man als Folge des Zeeman-Effekts eine Aufspaltung in drei Strahlen (Flecken) erwarten.
Das Experiment zeigt jedoch eine Aufspaltung in zwei Strahlen (Flecken). Folglich muss das Elektron einen inneren Bahndrehimpuls (Spin) besitzen, dessen z-Komponente zwei diskrete Werte annehmen kann.
Bevor wir uns mit der Einbindung des Elektronspins in den Formalismus der Quantenmechanik befassen, versuchen wir eine klassische Motivation zu geben. Die Idee ist, den Spin (Eigendrehimpuls) und das entsprechende magnetische Moment durch die Rotation des Elektrons um eine feste Achse zu erklären. Schätzt man jedoch die Grösse des Elektrons mit m ab, so müsste die Rotationsfrequenz, die benötigt wird, um den beobachteten Bahndrehimpuls und das magnetische Moment zu erklären, so hoch sein, dass die Rotationsgeschwindigkeit am Äquator des Elektrons die Lichtgeschwindigkeit überschreiten würde. Folglich scheitert eine klassische Motivation und wir halten fest:
Es existiert keine klassische Erklärung für das Phänomen des Elektronspins.
Wir kommen zur quantenmechanischen Behandlung. Obwohl kein klassisches Pendant existiert, entsprechen die Eigenschaften des Elektronspins den Eigenschaften des Bahndrehimpulses des Elektrons. Die Einbindung in den Formalismus der Quantenmechanik ergibt sich daher im Wesentlichen aus der Analogie zum Bahndrehimpuls . Jedoch wird sich zeigen, dass die Analogie auch ihre Grenzen hat.
Der Bahndrehimpulsoperator ist allgemein als Differentialoperator darstellbar (siehe Abschnitt 9.3.2)
und wirkt auf die Wellenfunktion .
Im Gegensatz dazu lässt sich der Spinoperator nicht durch einen Differentialoperator darstellen. Dem inneren Freiheitsgrad des Elektrons entspricht nicht eine Raumkoordinate, sondern eine klassisch nicht deutbare Spinvariable . Jedoch gilt die Analogie insofern, dass wie zu den Ortskoordinaten , , die Ortswellenfunktion gehört, der Spinvariablen eine Spinwellenfunktion entspricht. Der Spinoperator wirkt auf diese Spinfunktion.
Die Heisenbergsche Unschärferelation steckt in den Kommutationsregeln. Diese sind sozusagen eine physikalische Charakterisierung der Operatoren. Entsprechend der Analogie zwischen Spin und Bahndrehimpuls ergeben sich daher für den Spinoperator die selben Kommutationsregeln wie für den Bahndrehimpulsoperator (siehe Abschnitt 9.3.3). Es gilt
Für den Bahndrehimpulsoperator gelten die folgenden Eigenwertgleichungen (siehe Abschnitt 11.2.2)
wobei wir die Eigenfunktionen in Abhängigkeit von Kugelkoordinaten , und ausgedrückt haben. Für die beiden Quantenzahlen und gilt dabei
Dementsprechend gibt es für ein festes Eigenfunktionen von . Weiter gilt, dass die Quantenzahlen , und verändert werden können, zum Beispiel durch die Einstrahlung von Photonen und dass sich die Aufenthaltswahrscheinlichkeit sich für grosse Quantenzahlen der klassischen Aufenthaltswahrscheinlichkeit nähert, d.h. es gilt das Korrespondenzprinzip.
Analog gelten für den Spinoperator die folgenden Eigenwertgleichungen
wobei die Quantenzahl Werte annehmen kann. Nach der von Goudsmit und Uhlenbeck formulierten Hypothese des Elektronspins muss also gelten und demzufolge als einziger möglicher Wert für und . Wir halten fest:
Der Spin des Elektrons wird durch die Quantenzahlen und charakterisiert. Wir sagen, das Elektron besitzt den Spin . Entsprechend gelten die folgenden Eigenwertgleichungen
Der Zustand wird als „spin up“ und der Zustand als „spin down“ bezeichnet.
Im Gegensatz zu den Quantenzahlen , und , ist also unveränderlich1. Weiter ist der Übergang zu hohen Quantenzahlen nicht möglich, der Spin hat kein klassisches Analogon.
Obwohl der Spin klassisch nicht erfasst werden kann, ist es manchmal ganz nützlich, wenn man sich unter dem Elektron ein rotierendes geladenes Kügelchen vorstellt. Aufgrund dieser Vorstellung erwartet man zum Beispiel ein dem Spin entsprechendes magnetisches Moment . Jedoch zeigt sich hier, dass die Analogie zum Bahndrehimpuls ihre Grenzen hat. Denn es gilt für die z-Komponente des magnetischen Moments (siehe Abschnitt 12.2) bzw. hervorgerufen durch den Bahndrehimpuls bzw. Spin des Elektrons
wobei gyromagnetischer Faktor genannt wird. Damit ist das gyromagnetische Verhältnis , d.h. das Verhältnis zwischen magnetischem Moment und Bahndrehimpuls bzw. Spin, beim Spin des Elektrons mehr als doppelt so gross wie beim Bahndrehimpuls2.
Nach Abschnitt 12.3 gilt für das Elektron des Wasserstoffatoms unter Vernachlässigung des Spins im Zustand : Die Energieniveaus charakterisiert durch die Quantenzahl spalten sich im homogenen externen Magnetfeld in Niveaus charakterisiert durch die Quantenzahlen und mit Abstand auf. Der entsprechende Hamilton-Operator ist gegeben durch
Entsprechend gilt für ein freies Elektron der festen Energie mit Spin im Zustand : Das Energieniveau spaltet sich in zwei Niveaus und auf charakterisiert durch die Quantenzahl mit dem folgenden Abstand
Der entsprechende Hamilton-Operator ist gegeben durch
Es sei bemerkt, dass das Elektron nicht das einzige Elementarteilchen ist, das einen Spin aufweist. Das Proton und das Neutron besitzen ebenfalls den Spin 1/2. Die entsprechenden magnetischen Momente und sind unterschiedlich, jedoch beide von der Grössenordnung des Kernmagnetons
wobei die Masse des Protons bezeichnet. Das Kernmagneton ist 1836 mal kleiner als das Bohr-Magneton . Interessant ist dabei vor allem auch die Tatsache, dass das Neutron, obwohl es keine Ladung besitzt ein magnetisches Moment aufweist.
Neben den Elementarteilchen besitzen auch einige Atomkerne einen Spin. Es existieren Kerne mit ganzzahligem (1, 2, 3, ...) und Kerne mit halbzahligem (1/2, 3/2, 5/2, ...) Spin. Alle Atomkerne mit Spin besitzen ein entsprechenden magnetisches Moment, das von der Grössenordnung von ist. Dabei hängt das Verhältnis zwischen Spin und magnetischem Moment jeweils von der Kernsorte ab.
Als nächstes lernen wir eine elegante mathematische Darstellung für den Elektronspin kennen. Der Spin ist eine physikalische Observable und deshalb ist der entsprechende Operator hermitesch. Nach Satz 9.5 lässt sich demnach jede beliebige Spinfunktion als Linearkombination der beiden orthogonalen (siehe Satz 9.3) und normierten Eigenfunktionen und schreiben
wobei , und aufgrund der Normierung
In anderen Worten: Die Eigenfunktionen und bilden die Basis des zweidimensionalen Raums der Spinfunktionen und wir können sie als zweidimensionale Spaltenvektoren schreiben
Entsprechend lautet nach (13.20) die allgemeine Spinfunktion in dieser Darstellung
In dieser Darstellung entsprechen die Operatoren , und Matrizen. Es gilt
wobei , und den sogenannten Pauli-Matrizen entsprechen und gegeben sind durch (für eine Herleitung der Pauli-Matrizen verweisen wir auf Anhang K)
Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass wenn wir nicht die z-Achse ausgezeichnet hätten, sondern die x- oder y-Achse, dann wäre nicht , sondern entsprechend oder diagonal. Der Spinoperator lautet entsprechend
und das Quadrat des Spinoperators
Oft werden zusätzlich die sogenannten Leiteroperatoren und eingeführt, die, wie wir sehen werden, einen Zustandswechsel bewirken.
In Matrixschreibweise ergeben sich mit (13.24) folgende Darstellungen
Die Anwendung der Leiteroperatoren auf die beiden Zustände und ergibt somit
Wir sehen, wie zu Beginn angedeutet, dass die Leiteroperatoren und einen Zustandswechsel bewirken. Genauer ausgedrückt, erhöht der Operator die dem Zustand entsprechende Quantenzahl um 1 und der Operator erniedrigt sie um 1. Entsprechend wird in Analogie zum quantenmechanischen harmonischen Oszillator (siehe Kapitel 10) Erzeugungsoperator und Vernichtungsoperator genannt.