Kapitel 6
Materiewellen

In den letzten Kapiteln haben wir gelernt, dass elektromagnetische Strahlung sowohl Wellen- als auch Teilcheneigenschaften zeigt. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit an einem gegebenen Ort ein Photon anzutreffen proportional zum Quadrat der Amplitude der klassischen elektromagnetischen Welle.

In diesem Kapitel diskutieren wir, wie sich auch bei massebehafteten Teilchen, wie z.B. Elektronen, Protonen, Neutronen, Atomkernen, ganzen Atomen oder auch Molekülen, nicht nur Teilcheneigenschaften sondern auch Welleneigenschaften beobachten lassen. Dabei werden wir in Analogie zum Photon experimentelle Beobachtungen erklären, indem wir annehmen, dass die Aufenthaltswahrscheinlichkeit materieller Teilchen proportional zum Quadrat der Amplitude einer Welle, der sogenannten Materiewelle, ist.

Im Gegensatz zur elektromagnetischen Welle, die dem Photon zugeordnet ist, kann die Materiewelle jedoch nicht mit der klassischen Theorie gedeutet werden. Die Materiewelle ist ein mathematisches Konzept zur Berechnung der Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines massebehafteten Teilchens.

Materiewellen wurden 1923 von Louis de Broglie postuliert. Experimentelle Hinweise dafür, dass sich Teilchen wie Wellen verhalten können, gab es zu dieser Zeit aber noch nicht. De Broglies Idee entstand aus der Analogie zu den Photonen. Aufgrund dieser Analogie konnte er die Wellenlänge für Materiewellen angeben.

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Diese Beziehung wird de Broglie-Beziehung genannt, wobei p  den Impuls des durch die Materiewelle beschriebenen Teilchens bezeichnet und h  das Plancksche Wirkungsquantum ist.

Für Photonen gilt wie bereits bekannt

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wobei p  der Impuls des Photons ist. Dabei ist zu bedenken, dass Photonen sich immer mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten und keine Ruhemasse haben. Aus diesem Grund ist die Ruheenegie des Photons gleich null. Auch dieser Aspekt unterscheidet Photonen von massebehafteten Teilchen.

Im folgenden Abschnitt gehen wir nun auf experimentelle Situationen ein unter denen sich die Welleneigenschaften von Materie beobachten lassen.

6.1 Experimenteller Nachweis der Materiewellen

Obwohl die Materiewelle kein klassisches Pendant hat und wir sie als mathematisches Konzept bezeichnet haben, zeigt sich die Realität der Materiewelle im Experiment.

6.1.1 Beugung von Elektronenwellen

Das erste Experiment, das den Wellencharakter bewegter Materieteilchen zum Vorschein brachte, wurde in den Jahren 1923 - 1927 (anfänglich ohne Kenntnis des de Broglieschen Postulats) von Clinton Davisson und Lester Germer in einem Industrielabor (Bell Telephone Laboratories) durchgeführt. Die beiden Experimentatoren arbeiteten am Problem der Sekundärelektronenemission, das für die Technik von Radioröhren von Bedeutung war.

Davisson und Germer schossen in ihrem Experiment (siehe Abb. 6.1) Elektronen auf die Oberfläche von Ni-Kristallen und beobachteten die vom Kristall ausgehenden Elektronen als Funktion des Winkels ϑ  und als Funktion der Beschleunigungsspannung U  im Bereich zwischen 30 und 200 V.


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Abb. 6.1: Experimentaufbau von Davisson und Germer: Elektronen werden beschleunigt und treffen auf einen Ni-Kristall. Ein Auffänger und ein Strommesser dienen zur Messung der gebeugten Elektronen in Abhängigkeit des Winkels ϑ  und der Beschleunigungsspannung U  .


Bei Beschleunigungsspannungen in diesem Bereich handelt es sich um relativ langsame Elektronen. Diese werden von den Atomen sehr stark gestreut, da sie sich aufgrund ihrer niedrigen Geschwindigkeit beim Streuprozess lange im Kraftfeld des streuenden Atoms befinden. Folglich dringen sie nicht in den Kristall ein, sondern werden von den Atomen an der Oberfläche gestreut. Die Beugung findet also in diesem Fall an einem Flächengitter und nicht an einem Raumgitter statt und unterscheidet sich deshalb von der Bragg-Reflexion (siehe Abschnitt 3.4.2), die restriktiver1 ist.

Wir betrachten die Beugung des Elektronenstrahls an den Atomreihen der Oberfläche, die ein Reflexionsgitter bilden (siehe Abb. 6.2). Wenn nun die einfallende Strahlung Wellennatur hat und an diesem Gitter gebeugt wird, dann treten Maxima der reflektierten Strahlung auf, wenn die von den einzelnen Atomreihen gestreuten Wellen konstruktiv interferieren, d.h. wenn gilt

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Abb. 6.2: Beugung des Elektronenstrahls an den Atomreihen der Oberfläche des Ni-Kristalls mit Gitterkonstante a = 2.15  Å . Der Gangunterschied zwischen zwei an benachbarten Atomen gebeugten Elektronenstrahlen beträgt a sin ϑ  .


Bei einer Beschleunigungsspannung von U = 54  V beobachteten Davisson und Germer bei senkrechtem Elektroneneinfall auf eine Kristallfläche, deren Orientierung in Bezug auf das Kristallgitter bekannt war, ein erstes Maximum (n = 1  ) des Auffängerstroms bei der Winkelstellung ϑ = 50o   . Der Abstand der Atomreihen a  war aus Röntgen-Untersuchungen der Struktur bekannt. Für die spezielle Kristallfläche des Experiments ist a = 2.15  Å . Wenn man das Maximum als Beugungsmaximum interpretiert, erhält man für den Elektronenstrahl folgende Wellenlänge

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Wir überprüfen nun, ob diese Wellenlänge mit der de Broglie-Beziehung λ = h∕p  übereinstimmt. Der Impuls der Elektronen ergibt sich aus der Beschleunigungsspannung U  . Wir können dabei von nicht-relativistischen Teilchen ausgehen, da bei den Experimenten von Davisson und Germer U  ausreichend niedrig war, so dass die Geschwindigkeit der Elektronen klein war im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit (v∕c  war von der Grössenordnung 10-3   ). Unter Vernachlässigung der Austrittsarbeit aus der Kathode folgt aus der Energieerhaltung

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Daraus erhalten wir für den Impuls p  die Beziehung

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Einsetzen in die de Broglie-Beziehung ergibt für die Wellenlänge λ

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was mit dem Wert für die Wellenlänge aus dem Winkel für das Beugungsmaximum in guter Näherung übereinstimmt.

Bei der Streuung von Elektronen an Kristalloberflächen ist es wichtig Adsorption2 von Gas auf der Oberfläche zu vermeiden, da sonst die Eigenschaften der Adsorbatschicht das Streuexperiment beeinflussen können. Adsorption kann vermieden werden, indem die Oberflächen im Ultrahochvakuum untersucht werden. In den historischen Experimenten von Davisson und Germer waren diese Bedingungen nur angenähert erfüllt.

In denselben Jahren wurde von George Paget Thomson (dem Sohn von Joseph John Thomson, dem Entdecker des Elektrons) und seinem Schüler A. Reid ein Experiment mit der Absicht durchgeführt, die de Broglie-Beziehung zu prüfen. Im Gegensatz zu Davisson und Germer benutzten diese Forscher nicht das Oberflächengitter, sondern das Raumgitter von Kristallen zur Beugung, d.h. Bragg-Reflexion. Dazu ist es aber notwendig, dass die Elektronen in das Gitter eindringen, d.h. man muss schnelle Elektronen verwenden, was Beschleunigungsspannungen von der Grössenordnung von 104   V entspricht. In diesem Experiment wird das Problem der Oberflächenadsorption vermieden.

George Paget Thomson und Reid durchstrahlten sehr dünne Schichten von regellos orientierten Mikrokristallen, wie sie sich zum Beispiel beim Aufdampfen von Metallen im Hochvakuum auf dünne, amorphe, organische Filme ergeben (siehe Abb. 6.3). In einer solchen polykristallinen Schicht finden sich immer Kristalle, für welche die Bragg-Bedingung bei der betreffenden durch die Beschleunigungsspannung gegebenen de Broglie-Wellenlänge erfüllt ist. Auf diesen Zusammenhang werden wir im Rahmen der Untersuchung des Debye-Scherrer-Verfahrens zur Strukturanalyse polykristalliner Materialien mit Röntgen-Strahlung im Abschnitt 7.2.2 nochmals eingehen.


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Abb. 6.3: Experimentaufbau von George Paget Thomson und Reid: Elektronen werden beschleunigt und treffen auf eine dünne polykristallinen Schicht. Der gebeugte Strahl wird mittels Leuchtschirm sichtbar gemacht.


Für eine bestimmte Ordnung n  liegen die Maxima der gebeugten Strahlung auf einem Kreis. Da verschiedene Ordnungen n  auftreten und da sich zudem die Atome im Raumgitter auf verschiedene Art und Weise zu Netzebenen zusammenfassen lassen, besteht das Beugungsbild aus vielen konzentrischen Kreisen.

Bei bekannter Kristallstruktur, d.h. Gitterkonstante a  , kann man aus dem Bragg-Winkel ϑ  für ein Beugungsmaximum auf die Wellenlänge der Materiewellen schliessen3.

Wiederum kann man auch in diesem Experiment die Wellenlänge mit Hilfe der de Broglie-Beziehung berechnen. Nur muss bei Beschleunigungsspannungen von 104   V und darüber der Impuls relativistisch berechnet werden. Unter Vernachlässigung der Austrittsarbeit aus der Kathode gilt aufgrund der Energieerhaltung

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Diese Gleichung ist nach p  aufzulösen und das Ergebnis in die de Broglie-Beziehung einzusetzen. George Paget Thomson und Reid erhielten befriedigende Übereinstimmung zwischen dem Resultat dieser Berechnung und der aus dem Beugungsbild bestimmten Wellenlänge.

Diese beiden Experimente bestätigen die These, dass Elektronen Wellencharakter zeigen.

6.1.2 Beugung von Neutronen

Beugung tritt immer auf, wenn zwischen den bewegten Materieteilchen und den Bausteinen des beugenden Objekts eine Wechselwirkung besteht. Im Fall der Elektronen, mit denen wir uns im letzten Abschnitt beschäftigt haben, ist in erster Linie die Coulomb-Wechselwirkung für die Streuung verantwortlich. Ebenfalls können magnetische Wechselwirkungen eine Rolle spielen, da das Elektron ein magnetisches Moment hat.

Am Beispiel der Neutronenbeugung zeigt sich, dass auch ungeladene Teilchen sich wie Wellen verhalten. Seit man in Kernreaktoren intensive Neutronenquellen zur Verfügung hat, ist die Neutronenbeugung zu einer der wichtigsten Methoden zur Untersuchung der Struktur von kondensierter4 Materie geworden.

Bei der Neutronenbeugung spielen zwei Wechselwirkungen, die von der gleichen Grössenordnung sein können, eine Rolle:

Wir untersuchen nun, welche Bedingung die Neutronen erfüllen müssen, damit Beugung (Bragg-Reflexion) möglich ist: Die Bragg-Bedingung nλ = 2d  sin θ  ist nur erfüllbar, wenn die Wellenlänge kleiner ist als der doppelte Netzebenenabstand a  , welcher von der Grössenordnung der Atom- bzw. Moleküldurchmesser ist. Eine nähere Betrachtung des Beugungsproblems, die auch die thermische Bewegung (Gitterschwingungen) einschliesst zeigt, dass es bei Strukturbestimmungen von Vorteil ist, wenn die Wellenlänge nicht sehr klein ist im Vergleich zu den Abständen der Netzebenen. Die sogenannten thermischen Neutronen aus einem Kernreaktor erfüllen diese Bedingung. Im Moderator5 des Reaktors, der aus Graphit oder (schwerem) Wasser besteht, werden die schnellen Neutronen, die in den Brennstoffelementen durch Kernspaltung entstehen, auf thermische Geschwindigkeiten6 gebracht. Bei Temperaturen von einigen 100 K erhalten wir mit Hilfe der Energieerhaltung aus dem Äquipartitionsprinzip 1   2   3
2mv  =  2kBT  eine de Broglie-Wellenlänge von

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Dies entspricht etwa einem Drittel typischer Atomabstände in Kristallen oder Flüssigkeiten.

Wir haben an einigen Beispielen gesehen, dass nicht nur Photonen Wellen- und Teilcheneigenschaften zeigen, sondern auch massebehaftete Teilchen, wie Elektronen und Neutronen. Für die Entdeckung des Elektrons als Teilchen erhielt Joseph John Thomson 1906 den Nobelpreis. Sein Sohn, Georg Paget Thomson, wurde (zusammen mit Davisson) im Jahre 1937 für den Nachweis, dass Elektronen ebenfalls Welleneigenschaften zeigen, mit dem Nobelpreis geehrt.

6.2 Materiewellen und der klassische Grenzfall

Wir haben im letzten Abschnitt die Beugung von Materiewellen an natürlichen Kristallgittern untersucht. Man kann Materiewellen (Elektronenstrahlen) aber auch an feinen, künstlich hergestellten Gittern und Spalten beugen.

Wir untersuchen dazu folgendes Gedankenexperiment. Wir betrachten einen Spalt, der nach klassischen Vorstellungen ideal sein soll, d.h. er soll Teilchen, die von links (senkrecht) auf die Spaltebene einfallen, ungestört passieren lassen. Nach der klassischen Mechanik wird ein Detektor auf der rechten Seite des Spaltes nur geradeauslaufende Teilchen messen (siehe Abb. 6.4): Die Teilchenhäufigkeit ist nur beim Winkel      o
ϑ = 0   von null verschieden.


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Abb. 6.4: Nach der klassischen Mechanik werden bei der Beugung von Teilchen am Spalt nur unter dem Winkel ϑ = 0o   Teilchen auf dem Schirm registriert.


Wie würde man diesen Sachverhalt mit dem Wellenbild interpretieren? Wir wissen, dass die Teilchenhäufigkeit P  proportional zur Amplitude der gebeugten Materiewelle ist

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wobei s  die Spaltbreite ist (siehe Abb. 6.5).


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Abb. 6.5: Nach dem Wellenbild ergibt sich bei der Beugung von Teilchen am Spalt auf dem Schirm ein Beugungsmuster, d.h. Teilchen werden unter beliebigen Winkeln ϑ  registriert.


Damit diese Häufigkeit bei      o
ϑ = 0   zusammengedrängt wird, muss λ∕s  gegen null streben. Bei endlicher Spaltbreite muss also die de Broglie-Wellenlänge λ = h∕p  gegen null streben, damit die nach der klassischen Mechanik erwartete Winkelverteilung resultiert. Mit

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bedeutet dies, dass die Masse m  gross sein muss. Praktisch heisst das, dass sich makroskopische Körper nach den Gesetzten der klassischen Mechanik bewegen und erst bei kleinen Massen die Welleneigenschaften der Materieteilchen zum tragen kommen. Wir verdeutlichen dies an zwei Beispielen.

Die Materiewelle gibt auch bei einem einzelnen Teilchen die richtige Aufenthaltswahrscheinlichkeit und darf somit auch zur Beschreibung eines Einteilchensystems benützt werden.

6.3 Die Wellenfunktion

Wir haben bereits erkannt, dass Materie Welleneigenschaften zeigen kann und sich diese auch experimentell beobachten lassen. Zusätzlich wissen wir aus dem letzten Abschnitt unter welchen Bedingungen dieser Wellencharakter beobachtbar wird. Wir formulieren nun als nächstes eine solche Welle, die sogenannte de Broglie-Welle, mathematisch als sogenannte Wellenfunktion.

Als Ansatz für eine ebene harmonische Materiewelle ψ (x, t)  , die sich längs der x-Achse fortpflanzt, schreiben wir

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mit der Wellenzahl k = 2π∕λ  und der Amplitude der Welle A  . Mit der de Broglie-Beziehung λ = h∕p  und mit ℏ = h ∕2π  erhalten wir p = ℏk  . Da sowohl p  als auch k  Vektoren sind, können wir auch schreiben

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Dies ist eine andere Schreibweise der de Broglie-Beziehung. Damit ergibt sich für die ebene harmonische Materiewelle

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Es ist zu bemerken, dass wir die Welle als komplexe Funktion schreiben. Dabei entspricht der Funktion ψ (x,t)  keine direkte physikalische Messgrösse. Daher kann diese sehr wohl komplexe Werte annehmen. Hingegen sind messbare Grössen, wie z.B. die Aufenthaltswahrscheinlichkeit (Teilchenhäufigkeit), reell.

Ausgehend vom Wissen, dass die Aufenthaltswahrscheinlichkeit materieller Teilchen proportional zum Quadrat der Amplitude der Materiewelle ist, postulieren wir:

Die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen am Ort x  zur Zeit t  anzutreffen, ist proportional zu ψ(x,t)ψ*(x,t)  , d.h. zum Quadrat des absoluten Betrags der Wellenfunktion ψ(x,t)  .

In den folgenden Kapiteln werden wir uns noch detaillierter mit diesem Postulat auseinandersetzen.

Nachdem wir nun eine Form für die ebene harmonische Materiewelle gefunden haben und auch deren Definition, stellt sich noch die Frage, welche physikalische Grösse für ω  zu verwenden ist. Es ist naheliegend, die für Photonen gültige Beziehung E =  ℏω  auf die Materiewellen anzuwenden, analog wie die Beziehung λ = h∕p  von den Photonen übernommen wurde. Wir schreiben also für die totale Energie eines Materieteilchens E = ℏω  , wobei ω  die Frequenz der de Broglie-Welle ist.

Damit kann die ebene harmonische Materiewelle, die de Broglie-Welle, wie folgt geschrieben werden

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6.4 Wellenpakete

Gehen wir von einer ebenen harmonischen Materiewelle ψ (x, t) = Aei∕ℏ(px-Et)   aus, die wir im letzten Abschnitt kennengelernt haben und berechnen die entsprechende Aufenthaltswahrscheinlichkeit, so erhalten wir den folgenden konstanten Wert         *         2
ψ (x,t)ψ  (x,t) = A   . Das bedeutet, dass die ebene harmonische Welle ein Teilchen beschreibt, dessen Aufenthaltswahrscheinlichkeit entlang der gesamten x-Achse konstant ist. Daher kann man einem durch eine solche Wellenfunktion beschriebenen Teilchen keine eindeutige Position im Raum zuweisen.

Um nun ein Teilchen zu beschreiben, dessen Aufenthaltswahrscheinlichkeit in einem bestimmten Bereich des Raums gross ist, verwendet man eine Superposition (Überlagerung) von harmonischen Wellen verschiedener Frequenzen. Die Überlagerung sollte so beschaffen sein, dass sich dabei eine Wellengruppe ausbildet (siehe Abb. 6.6). In der Quantenmechanik spricht man auch von einem Wellenpaket. Ein Wellenpaket ist also eine Welle, deren Amplitude nur in einem begrenzten Raumgebiet ungleich Null ist und deshalb ein Teilchen beschreibt, dessen Aufenthaltsbereich auf dieses Raumgebiet beschränkt ist.


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Abb. 6.6: Momentaufnahme eines Wellenpakets, das ein Teilchen darstellt, das sich im Raumgebiet Δx  aufhält. Auf die Bedeutung der Gruppengeschwindigkeit vg   und Phasengeschwindigkeit vph   wird im Text eingegangen.


Ein ähnlicher Zusammenhang ist bekannt aus der Beschreibung von elektromagnetischen Wellen. Bei ebenen Wellen ist die Intensität der Welle über den ganzen Raum gleichmässig verteilt. Um im Raum lokalisierte elektromagnetische Pulse zu beschreiben, betrachtet man Überlagerungen von Wellen verschiedener Frequenzen.

6.4.1 Gruppen- und Phasengeschwindigkeit von Materiewellen

Als nächstes widmen wir uns der Frage, mit welcher Geschwindigkeit sich ein Teilchen fortbewegt, welches durch ein Wellenpaket beschrieben ist. Da die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des betrachteten Teilchens nur innerhalb der Wellengruppe gross ist, interpretiert man die Gruppengeschwindigkeit vg   , d.h. die Geschwindigkeit, mit der sich ein Wellenpaket als Ganzes fortbewegt, als Geschwindigkeit des Teilchens.

Die Phasengeschwindigkeit vph = ω∕k  einer Materiewelle gibt an, mit welcher Geschwindigkeit sich Stellen konstanter Phase bewegen. Sie unterscheidet sich von der Gruppengeschwindigkeit vg   , wenn die Phasengeschwindigkeit einer Welle von der Frequenz abhängt. Dieses Phänomen nennt man Dispersion. Die Dispersion wird durch die Funktion ω (k)  beschrieben (siehe Abb. 6.7). Ist vph = ω ∕k  unabhängig von k  so haben wir keine Dispersion. Hängt hingegen v
 ph   von k  ab, so haben wir Dispersion. Auf die genauere Bedeutung der Phasengeschwindigkeit gehen wir im Abschnitt 6.5 ein.


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Abb. 6.7: Beschreibung der Dispersion durch die Funktion ω(k)  : Hängt ω  linear von k  ab, so liegt keine Dispersion vor, ansonsten spricht man von Dispersion.


Unser nächstes Ziel ist es einen Ausdruck für die Gruppengeschwindigkeit vg   zu definieren. Sind die k  -Werte der superponierten Wellen alle in der Nähe desselben Werts k0   , dann ändert sich (zumindest bei stetigem Verlauf der Funktion ω(k)  ) die Gestalt des Wellenpakets nur schwach im Laufe der Zeit (siehe Abb. 6.7). Das Wellenpaket bewegt sich dann mit der Gruppengeschwindigkeit

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Bemerkung:

Jedoch muss man auch Wellenpakete in Betracht ziehen, bei denen sich die k-Werte der superponierten Wellen über einen grösseren Bereich Δk  erstrecken. Das Wellenpaket kann dann als Superposition von vielen „Subpaketen“ i  , die sich mit der ihnen eigenen Gruppengeschwindigkeit vg = dω ∕dk|
  i         k=ki  bewegen, aufgefasst werden. Das Gesamtpaket läuft also auseinander. Wenn die Breite des Wellenpakets bei t = 0  Δx |0   beträgt, dann wächst sie in der Zeit t  auf

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Immerhin kann man auch in diesem Fall einen „Schwerpunkt“ des Wellenpakets definieren und ihm eine Gruppengeschwindigkeit vg   zuschreiben

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6.5 Phasengeschwindigkeit und Brechung von Materiewellen

In diesem Abschnitt gehen wir genauer auf die Bedeutung der Phasengeschwindigkeit von Materiewellen ein und betrachten in diesem Zusammenhang das Phänomen der Brechung, welches auch aus der Optik bekannt ist.

Bei jeder (harmonischen) Welle ist die Phasengeschwindigkeit gegeben durch vph = λν = ω∕k  . Diese Beziehung gilt auch für Materiewellen. In diesem Fall ist λ = h∕p  und ν = E∕h  einzusetzen, so dass vph = E ∕p  . Bezeichnen wir die Teilchengeschwindigkeit mit v  und die Ruhemasse mit m0   , dann gilt für ein relativistisches Teilchen7

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mit γ = 1∕∘1----v2∕c2   . Wir erkennen daher, dass die Phasengeschwindigkeit der Materiewellen umgekehrt proportional zur Teilchengeschwindigkeit ist

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Da die Teilchengeschwindigkeit v  die Lichtgeschwindigkeit c  nicht überschreiten kann, ist die Phasengeschwindigkeit immer grösser als die Lichtgeschwindigkeit.

Trotzdem ist die Phasengeschwindigkeit der Materiewellen nicht ganz ohne physikalische Bedeutung. Da das Plancksche Wirkungsquantum im Ausdruck für v
 ph   nicht vorkommt, ist zu erwarten, dass man mit der Phasengeschwindigkeit Phänomene beschreiben kann, die auch aufgrund der klassischen Mechanik verständlich sind. Vom Wellenstandpunkt aus müssen es Phänomene sein, bei denen die Wellenlänge nicht eingeht, denn diese enthält das Plancksche Wirkungsquantum. Beugungserscheinungen kommen also nicht in Frage. Es gibt aber Wellenphänomene, die nur durch die Phasengeschwindigkeit bestimmt sind. Ein einfaches Beispiel ist die Brechung an der Grenzfläche zweier Gebiete mit verschiedenen Phasengeschwindigkeiten auf das wir hier kurz eingehen.

Das Brechungsgesetz kann mit Hilfe des Huygens-Prinzips erklärt werden. Dieses ist ein rein kinematisches (um nicht gar zu sagen rein mathematisches) Prinzip und muss als solches für jede Welle gelten, insbesondere auch für Materiewellen. Für eine Grenzfläche zwischen zwei Gebieten I und II mit den Phasengeschwindigkeiten vI
 ph   und  II
vph   gilt allgemein (siehe Abb. 6.8)

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Abb. 6.8: Die Brechung von Materiewellen an der Grenzfläche zweier Gebiete mit verschiedenen Phasengeschwindigkeiten.


Im Fall von Schall- oder elektromagnetischen Wellen sind die Gebiete I und II verschiedene Materialien, deren physikalische Eigenschaften die Phasengeschwindigkeiten bestimmen. Für Schallwellen gilt

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wobei E  das Elastizitätsmodul und ρ  die Dichte des Materials bezeichnen. Für elektromagnetische Wellen gilt

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wobei ϵ  die Dielektrizitätskonstante und μ  die magnetische Permeabilität des Materials bezeichnen.

An einem einfachen Beispiel illustrieren wir nun, dass die Brechung der Materiewellen durch das Kraftfeld bestimmt ist, in welchem sich die Teilchen bewegen und dass das Brechungsgesetz die Bahn des Teilchens liefert, die es aufgrund der klassischen Mechanik durchlaufen würde. Die klassische Bahn stimmt dann mit der Erfahrung überein, wenn keine Beugung auftritt, d.h. wenn die de Broglie-Wellenlänge sehr klein ist im Vergleich zur Breite der Spalte und im Vergleich zu den Lineardimensionen der Gebiete, in welchen das Kraftfeld eine Ablenkung des Teilchens bewirkt.

Das Experiment (siehe Abb. 6.9) findet in einem evakuierten Gefäss statt, damit die Teilchen (Elektronen) sich frei von Kollisionen ausbreiten können. Die aus einer Glühkathode K austretenden Elektronen werden durch ein zwischen K und A angelegtes elektrisches Feld beschleunigt und unter dem Winkel θ1   bei B in den Metallkasten I eingeschossen. Dabei ist schon bei niedrigen Beschleunigungsspannungen U0   die de Broglie-Wellenlänge λ  der Elektronen so klein, dass man Beugung an den Blenden der Apparatur vernachlässigen kann. Zum Beispiel erhalten wir für U0 = 54  eV eine Wellenlänge von λ = 1.67  Å . Damit ist eine klassische Berechnung der Elektronenbahn gerechtfertigt.


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Abb. 6.9: Experimentaufbau zur Brechung von Materiewellen. Auf die einzelnen Bestandteile der Versuchsanordnung wird im Text eingegangen.


Das Potential des Kastens I gegenüber der Erde sei - U  . Im Innern des Kastens I herrscht kein elektrisches Feld, wenn wir von der sehr kleinen Ladung des Elektronenstrahls absehen. Wir können also davon ausgehen, dass sich die Elektronen mit einer konstanten Geschwindigkeit ⃗v
 I   bewegen.

Bei C treten die Elektronen aus dem Kasten I durch ein Loch aus, um dann bei D in den leitenden Kasten II einzutreten, der geerdet ist. In diesem Kasten bewegen sie sich mit der konstanten Geschwindigkeit ⃗vII   . Diese unterscheidet sich von ⃗vI   , da zwischen den beiden Kästen durch den Potentialunterschied ein elektrisches Feld herrscht, in welchem die Elektronen noch einmal beschleunigt werden. Dieses Feld ist entlang der y-Achse gerichtet und beeinflusst daher nur die y-Komponente der Geschwindigkeit. Die x-Komponente ist in beiden Kästen gleich, d.h. es gilt

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Somit erhalten wir aufgrund dieser auf der klassischen Mechanik und dem Elektromagnetismus aufbauenden Berechnung folgendes Resultat

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Dasselbe Ergebnis erhalten wir, wenn wir mit de Broglie-Wellen rechnen und in das Brechungsgesetz (6.26) für die Phasengeschwindigkeit (6.25), d.h. v   = c2∕v
 ph  einsetzen

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Diese Übereinstimmung ist ein Hinweis dafür, dass die de Brogliesche Wellenmechanik die klassische Mechanik als Grenzfall einschliesst, nämlich als Grenzfall vernachlässigbarer Beugung.

6.6 Die Dispersion von de Broglie-Wellen

Die Anwendung der ursprünglich für die Photonen betrachteten Beziehungen

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auf Materiewellen, was zur Form

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für die de Broglie-Welle führte, war ein Schritt, den wir nun verifizieren bzw. motivieren möchten. Wir betrachten dazu ein Teilchen, welches durch ein Wellenpaket (superponierte de Broglie-Wellen) beschrieben wird. Wenn die de Broglie-Wellen die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Teilchens liefern sollen, muss nach Abschnitt 6.4.1 eine Gruppengeschwindigkeit vg   resultieren, die gleich der klassischen Teilchengeschwindigkeit v  ist. Dies überprüfen wir nun.

Aus (6.32) und (6.33) erhalten wir für die Gruppengeschwindigkeit

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Wir zeigen nun, dass dieser Ausdruck sowohl für nicht-relativistische als auch für relativistische Teilchen der Teilchengeschwindigkeit v  entspricht:

D.h. sowohl relativistisch als auch nicht-relativistisch ist die Gruppengeschwindigkeit v
 g   einer Materiewelle gleich der Teilchengeschwindigkeit v  . Daher ist die Anwendung der für die Photonen gefundenen Beziehungen (6.32) und (6.33) auf Teilchen gerechtfertigt, d.h. die de Broglie-Wellenmechanik anwendbar.

Hier weisen wir noch einmal auf einen wichtigen Unterschied zwischen Photonen und Materieteilchen hin. Dazu ist es instruktiv, die Energie-Impuls-Beziehung (6.41) für Materieteilchen mit der entsprechenden Beziehung für Photonen E  = cp  zu vergleichen (siehe Abb. 6.10). Dabei findet man, dass das Photon einem Teilchen im Grenzfall verschwindender Ruhemasse m0   entspricht. Beim Photon im Vakuum zeigt sich keine Dispersion und es gilt vg = vph = c  . Daher haben Wellenpakete bei beliebigen Frequenzen im Vakuum dieselbe Gruppengeschwindigkeit. Im Gegensatz dazu zeigt ein massebehaftetes Teilchen Dispersion, d.h. verschiedene Frequenzkomponenten eines Wellenpakets haben verschiedene Ausbreitungsgeschwindigkeiten.


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Abb. 6.10: Vergleich der Energie-Impuls-Beziehung eines Materieteilchens mit Ruhemasse m0   mit der entsprechenden Beziehung für Photonen.


Um diese Tatsache nochmals zu verdeutlichen, betrachten wir den nichtrelativistischen Grenzfall (v ≪ c  ) der Energie-Impuls-Beziehung (6.41). Wir erhalten

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wobei wir im letzten Schritt die Beziehung p = ℏk  verwendet haben. Mit E = ℏ ω  erhalten wir

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Somit gilt ∂ω ∕∂k ∝ k  und wir haben Dispersion.

6.7 Zusammenfassung