Das Verständnis des einfachsten Atoms, d.h. des Wasserstoffatoms, ist eine der Grundlagen zum Verständnis aller Atome. Die theoretische Behandlung des Wasserstoffatoms ist zudem eine der schönsten Illustrationen zur Anwendung der Quantenmechanik. Insbesondere können viele Begriffe, die dabei erarbeitet werden, auf andere Systeme übertragen werden.
Wie wir in Kapitel 8 gesehen haben, liefert das (semiklassische) Bohrsche Atommodell bereits eine gute Beschreibung der grundlegenden Eigenschaften des Spektrums des Wasserstoffatoms. In diesem Modell werden die Energieniveaus durch die Hauptquantenzahl charakterisiert und die Frequenzen der Spektrallinien sind durch die Rydberg-Formel gegeben. Das Modell stösst jedoch bei der Beschreibung von Atomen mit mehreren Elektronen an seine Grenzen (siehe Abschnitt 8.6). Auch die Beschreibung des Wasserstoffspektrums ist nur begrenzt möglich, was bei einer detaillierten Betrachtung des Spektrums klar wird. Es treten viele nach dem Bohrschen Atommodell nicht erwartete Spektrallinien auf.
In diesem Kapitel kommen wir nun zu einer rein quantenmechanischen Behandlung des Wasserstoffatoms ausgehend von der Schrödinger-Gleichung. Wir werden sehen, dass im Vergleich zum Bohrschen Atommodell zusätzliche Quantenzahlen notwendig sind, um die Energieniveaus und die Spektrallinien zu beschreiben. Wie in Abschnitt 8.5 angedeutet, wird dabei der Bahndrehimpuls des Elektrons eine Rolle spielen. Ebenfalls einen Einfluss auf das Spektrum wird der Spin1 des Elektrons und des Protons haben. Zusätzlich können von aussen angelegte elektrische und magnetische Felder, sowie die sogenannten Vakuumfluktuationen2 die Energieniveaus und Spektrallinien beeinflussen.
Wir beginnen mit der Auflistung der Annahmen, die wir für unser Modell treffen werden und dem Aufstellen der Schrödinger-Gleichung. Anschliessend folgt das Lösen der Schrödinger-Gleichung und somit die Bestimmung der Wellenfunktionen und der Energieniveaus des Wasserstoffatoms.
Das Wasserstoffatom besteht aus einem Kern (Proton) mit der Masse und der Ladung und aus einem Elektron der Masse und der Ladung (siehe Abb. 11.1).
Für unser Modell zur Beschreibung des Wasserstoffatoms treffen wir die folgenden Annahmen:
Es ist jedoch zu bemerken, dass dieser Ausdruck nur dann für alle Abstän-de gilt, wenn Kern und Elektron als Punktladungen betrachtet werden können. Wenn aber zum Beispiel der Kern einen endlichen Radius besitzt, dann ist die -Abhängigkeit als Näherung zu betrachten, die nur dann angewendet werden darf, wenn die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons innerhalb vernachlässigbar ist. Beim Wasserstoffatom ist die -Näherung für alle Zustände des Elektrons gerechtfertigt.
Da das Problem kugelsymmetrisch ist, führen wir Kugelkoordinaten ein (siehe Abb. 11.1). Es gilt
Die potentielle Energie hängt nicht explizit von der Zeit ab. Daher ist die Gesamtenergie eine Konstante und es existieren stationäre Zustände der Form
wobei die zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung
erfüllt. Der Laplace-Operator nimmt dabei in Kugelkoordinaten die folgende Form an (siehe Anhang F)
Einsetzen von (11.1) und (11.7) in (11.6) ergibt für die zeitunabhängige Schröd-inger-Gleichung in Kugelkoordinaten
Bevor wir im nächsten Abschnitt die Schrödinger-Gleichung lösen, führen wir den Bahndrehimpulsoperator ein. Nach (9.68) lautet der Bahndrehimpulsoperator in Kugelkoordinaten
Für das Quadrat des Bahndrehimpulsoperators ergibt sich damit (Ausführung der Rechnung siehe Anhang G)
Damit können wir die Schrödinger-Gleichung (11.8) in der folgenden Form schreiben
Für die Bahndrehimpulskomponenten , und , für das Quadrat des Bahndrehimpulsoperators , sowie den Hamilton-Operator des Wasserstoffatoms gelten dabei die folgenden Kommutatorrelationen (siehe Abschnitt 9.3.3 und Anhang H)
Das bedeutet für das Wasserstoffatom, dass Funktionen existieren, die gleichzeitig Eigenfunktionen der Operatoren , und sind. D.h. die entsprechenden Observablen , und sind gleichzeitig scharf bestimmt (siehe Abschnitt 9.5.4).
Als erstes multiplizieren wir die Schrödinger-Gleichung (11.8) mit und erhalten
Wir wählen für die Funktion den folgenden Produktansatz
Es sei bemerkt, dass ein solcher Ansatz allgemein für alle kugelsymmetrischen Potentiale geeignet ist. Einsetzen des Ansatzes in (11.17) und Division durch liefert
Somit hängen die einzelnen Terme der Schrödinger-Gleichung nur von einer der Funktionen , oder oder der Koordinate ab. D.h. wir konnten durch unseren Produktansatz (11.18) die Schrödinger-Gleichung separieren. Wir ordnen nun die Gleichung (11.19) um, so dass der Term mit auf der rechten Seite steht und sich alle anderen Terme auf der linken Seite befinden. Es ergibt sich
Diese Gleichung kann nur dann gelten, wenn die linke und rechte Seite gleichzeitig identisch derselben Konstante sind. Wir wählen die Konstante . Auf die physikalische Bedeutung der Konstanten werden wir im Folgenden eingehen. Somit lautet die Differentialgleichung zur Bestimmung von
Die normierte Lösung ergibt sich zu
wobei wir den Index eingeführt haben. Der Vergleich mit Abschnitt 9.5.2 zeigt, dass und daher auch Eigenfunktionen der z-Komponente des Bahndrehimpulsoperators sind. Die Eigenwertgleichung lautet
wobei aufgrund der Eindeutigkeit der Wellenfunktion . Demzufolge charakterisiert die Konstante die Eigenwerte von und bestimmt damit die Werte, die der Erwartungswert der Observablen annehmen kann. wird magnetische Quantenzahl genannt.
Als nächstes betrachten wir die linke Seite der Gleichung (11.20). Umordnen und Division durch liefert
Wie zuvor kann diese Gleichung nur dann gelten, wenn die linke und rechte Seite gleichzeitig identisch derselben Konstanten sind. Wir wählen die Konstante . Auf die physikalische Bedeutung dieser neuen Konstanten werden wir in Abschnitt 11.2.2 eingehen. Somit ergeben sich für die Funktionen und die folgenden Differentialgleichungen
Aus dieser Darstellung wird insbesondere klar, dass nur die Radialkomponente von explizit vom Potential abhängt. Wir bestimmen nun die Lösungen der Differentialgleichungen für die Funktionen und einzeln.
Zur Bestimmung der Lösung für die Polarkomponente der Wellenfunktion differenzieren wir die Differentialgleichung (11.27) aus und erhalten
Wir betrachten nun als Funktion der neuen Variablen . Die entsprechende Differentialgleichung für ergibt sich dann zu
Lösungen dieser Differentialgleichung sind die zugeordneten Legendre-Polynome (siehe Anhang I.3)
wobei für die Quantenzahlen und gilt3
und die Legendre-Polynome sind (siehe Anhang I.2), welche sich als Lösung von (11.29) für ergeben. Es gilt
Die zugeordnete Legendre-Polynome sind reell und erfüllen die folgende Orthogonalitätsbedingung (siehe Gl. (I.33))
Somit lautet die normierte Lösung für die Polarkomponente der Wellenfunktion (siehe Tab. 11.1)
wobei wir die Indizes und eingeführt haben und die Legendre-Polynome gegeben sind durch
Mit (11.22) und (11.36) haben wir die Lösungen für und gefunden. Die Gesamtlösung des winkelabhängigen Anteils der Wellenfunktion entspricht dem Produkt dieser Funktionen. Es ergeben sich damit die sogenannten Kugelfunktionen (siehe Tab. 11.2, Abb. 11.2, Abb. 11.3 und I.6)
Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass die Funktionen und und damit auch die Kugelfunktionen für beliebige kugelsymmetrische Potentiale gelten, da das Potential nur explizit in der Differentialgleichung für die Bestimmung der radialen Funktion erscheint.
Zur Ermittlung der physikalischen Bedeutung der Quantenzahl gehen wir zurück zur Formulierung (11.11) der Schrödinger-Gleichung und multiplizieren sie mit
Einsetzen des Ansatzes und Division durch ergibt
wobei der Vergleich mit (11.25) die linke Seite als identifiziert. Damit ergibt sich das folgende Resultat
D.h. die Kugelfunktionen und damit die Wellenfunktionen sind Eigenfunktionen des Quadrats des Bahndrehimpulsoperators zum Eigenwert . Demzufolge charakterisiert die Quantenzahl die Eigenwerte von und bestimmt damit die Werte, die der Erwartungswert der Observablen annehmen kann. wird Bahndrehimpulsquantenzahl genannt. Zusammenfassend können wir für den Bahndrehimpuls eines Teilchen im kugelsymmetrischen Potential feststellen:
Nach den vorangegangenen Ausführungen sind durch die Bahndrehimpulsquantenzahl und die magnetische Quantenzahl die Erwartungswerte der Observablen und bestimmt. Befindet sich das System in einem Eigenzustand, dann gilt
Die erste Gleichung bestimmt den Betrag des Bahndrehimpulsvektors . Es gilt
Abb. 11.4, in der die möglichen Bahndrehimpulsvektoren für die Bahndrehimpulsquantenzahlen und gezeichnet sind, bestätigt die Bedingung . Insbesondere kann der Vektor aufgrund der Bedingungen (11.47) und (11.46) nie entlang der z-Achse zeigen. Dies ist im Einklang damit, dass nur eine einzige Komponente, die z-Komponente4, des Bahndrehimpulses scharf sein kann. Entlang der beiden dazu orthogonalen Raumrichtungen, x und y, ist der Bahndrehimpuls unscharf. In anderen Worten ausgedrückt, bedeutet das, dass wenn und festgelegt sind, dann sind und unbestimmbar.
Wir illustrieren diesen Sachverhalt graphisch (siehe Abb. 11.5): Der Vektor kommt auf einer Kugel zu liegen, deren Radius durch die Bahndrehimpulsquantenzahl festgelegt ist (Radius = ). Die magnetische Quantenzahl bestimmt die z-Komponente des Bahndrehimpulses zu und beschränkt dadurch den Aufenthaltsort des Vektors auf eine Kegelfläche innerhalb dieser Kugel. Jedoch weiss man nicht, wo innerhalb der Kegelfläche der Vektor zu liegen kommt.
Zur Bestimmung der radialen Funktion gehen wir von der Differentialgleichung (11.26) aus, d.h. der Gleichung
In dieser Gleichung tritt der Energiewert , sowie der Elektron-Kern-Abstand auf. Deshalb werden die Lösungen Auskunft über die Energie des Atoms und dessen Grösse geben. Wir gehen dabei von gebundenen Zuständen, d.h. , aus.
Wir beginnen mit der Bestimmung der Funktion indem wir in der Gleichung (11.48) setzen. Damit ergibt sich für die Funktion die Differentialgleichung
Als nächstes betrachten wir die beiden Grenzfälle und :
mit der allgemeinen Lösung
Aus der Randbedingung folgt und damit für .
mit der allgemeinen Lösung
Da die Funktion normierbar sein muss, ist und folglich für .
Wir setzen unsere Rechnung fort indem wir die Variable in (11.49) durch ersetzen. Gleichzeitig führen wir die Konstante ein. Es ergibt sich
Wir wählen nun für unter Berücksichtigung des Verhaltens für und den folgenden Ansatz
Einsetzen in (11.54) ergibt
Für wählen wir einen Potenzreihenansatz
Damit erhalten wir aus (11.56)
Damit die Summe verschwindet, müssen die Koeffizienten jeder Potenz verschwinden. Daher erhalten wir die folgende Bedingung
Damit ergibt sich zwischen den Koeffizienten die folgende Rekursionsrelation
Für hohe Potenzen, d.h. für ergibt sich somit das folgende Verhalten
Wir vergleichen dieses Verhalten der Potenzreihe mit der Reihe
In diesem Fall ergibt sich für nachfolgende Koeffizienten das folgende Grenzverhalten
D.h. die Reihe würde wie divergieren für , wenn sie nicht abbricht. Demzufolge würde wie divergieren für und wäre nicht normierbar und daher physikalisch nicht sinnvoll. Demzufolge muss die Reihe abbrechen. Nennen wir die höchste in der Reihe auftretende Potenz , so ergibt sich die Abbruchbedingung und damit
Die Zahl wird radiale Quantenzahl genannt. Mit und ergeben sich damit die folgenden diskreten Energiewerte
Mit der Rydberg-Energie eV und der Hauptquantenzahl ergibt sich daraus für die Energiewerte des Wasserstoffatoms (siehe Tab. 11.3)
Dieses Ergebnis ist identisch zu dem des Bohrschen Atommodells. Damit hängen die Energiewerte nur von der Hauptquantenzahl ab. Bei festem kann die Bahndrehimpulsquantenzahl die Werte 0, 1, 2, ..., annehmen. Da zu jedem für die magnetische Quantenzahl verschiedene Werte möglich sind, ergibt sich damit der folgende Grad der Entartung des Energiewerts
d.h. es existieren jeweils verschiedene Eigenfunktionen des Wasserstoffatoms, charakterisiert durch die Quantenzahlen , und , mit derselben Energie .
Die zu den Energiewerten zugehörigen Funktionen und damit die Funktionen und daraus schlussendlich die radiale Funktion könnten mit Hilfe der Rekursionsrelation (11.60) bestimmt werden. Wir wählen hier jedoch einen anderen Weg: Wir schreiben die Gleichung (11.56) in eine Form, welche mit einer aus der Mathematik bekannten Differentialgleichung übereinstimmt und übernehmen die entsprechenden Lösungen. Die bekannte Gleichung ergibt sich aus (11.56) durch die Substitution , der Definition und der Multiplikation mit zu
Diese Gleichung entspricht mit und der Differentialgleichung der zugeordneten Laguerre-Polynomen (siehe Anhang I.5)
D.h. es gilt
wobei eine Normierungskonstante darstellt. Wir bestimmen nun ausgehend von (11.70) schrittweise die normierte radiale Funktion :
Auf diese radiale Aufenthaltswahrscheinlichkeit werden wir anschliessend bei der Auflistung der Eigenschaften der radialen Funktionen genauer eingehen. Die zugeordneten Laguerre-Polynome erfüllen die Normierungsbedingung (siehe Gl. (I.60))
womit folgt
Daraus ergibt sich für die Konstante
Einsetzen in (11.74) liefert für die radiale Funktion
wobei wir die Quantenzahlen und als Indizes eingeführt haben. Für erhalten wir mit (11.66)
mit
dem Bohrschen Radius. Einsetzen in (11.79) liefert als Schlussresultat für die radiale Funktion (siehe Tab. 11.4 und Abb. 11.6)
Die radialen Funktionen haben die folgenden Eigenschaften:
Die radiale Aufenthaltswahrscheinlichkeit ergibt sich durch Integration über und . Sie ist die Wahrscheinlichkeit, das Elektron im Intervall in einem Abstand vom Ursprung (Kern) zu finden. Da die Funktionen normiert sind, ist sie gegeben durch .
Wir gehen nun kurz auf die Eigenschaften der s-, p- und d-Funktionen ein (siehe Tab. 11.5).
Die s-Funktionen sind definiert durch die Bedingung und damit auch . Die entsprechende Kugelfunktion ist konstant und dementsprechend sind die s-Funktionen kugelsymmetrisch. Weitere Eigenschaften der s-Funktionen sind zudem, dass der Betrag des Bahndrehimpulses verschwindet, sie als einzige am Ort des Kerns nicht verschwinden und dass zu jedem Wert von nur eine einzige s-Funktion gehört.
Die p-Funktionen sind definiert durch die Bedingung . Dann muss sein oder in anderen Worten, es existieren keine 1p-Funktionen (Eigenfunktionen mit für ). Die magnetische Quantenzahl kann entsprechend die drei Werte , annehmen, d.h. zu jedem Wert von gehören drei p-Funktionen.
Die d-Funktionen sind definiert durch die Bedingung l=2. Dann muss sein oder in anderen Worten, es existieren keine 1d und 2d-Funktionen (Eigenfunktionen mit für und ). Die magnetische Quantenzahl kann entsprechend die fünf Werte , , annehmen, d.h. zu jedem Wert von gehören fünf d-Funktionen.
mit dem Hamilton-Operator .
Dabei ist zu bemerken, dass die radialen Funktionen nur für Potentiale gelten. Die Funktionen gelten hingegen für beliebige kugelsymmetrische Potentiale .
wobei eV die Rydberg-Energie bezeichnet.
Dementsprechend nehmen die Erwartungswerte des Quadrats des Bahndrehimpulses und der z-Komponente des Bahndrehimpulses eines Teilchen, das sich in einem kugelsymmetrischen Potential bewegt, nur die diskreten Werte bzw. an. Damit ist der Betrag und die z-Komponente des Bahndrehimpulses durch die Quantenzahlen und bestimmt. Die x- und y-Komponente sind unbestimmbar.